In einer Welt, in der Aufstiegschancen zunehmend in den Bereich des Mythos abrutschen, steht Ernst-Reinhart Böhligs Skulptur „Sebastian II“ aus dem Jahr 1983 wie ein melancholischer Wächter der verpassten Gelegenheiten auf dem Berliner Platz in Stuttgart. Der Titel ruft unweigerlich die Leiden des Heiligen Sebastian ins Gedächtnis, aber hier, in der modernen Verbildlichung, scheint unser Protagonist nicht von Pfeilen durchbohrt, sondern von den Tücken des Alltags niedergerungen zu sein.
Während Oliver Nachtwey in seinen Schriften die prekäre soziale Mobilität der heutigen Gesellschaft kritisiert, offenbart „Sebastian II“ diese düstere Realität in Bronze gegossen. Der Körper des Sebastian, steif und unnatürlich nach hinten gebeugt, wirkt wie gefangen in einem ewigen Sturz – eine eindrucksvolle Metapher für die zunehmende Ungleichheit und die Schwierigkeit des sozialen Aufstiegs. Nachtwey beschreibt eine Gesellschaft, die einst von sozialer Durchlässigkeit träumte, jetzt aber in einer Art neofeudalem Alptraum gefangen ist, in dem der Sprung aus der Unterschicht zur Elite zu einer fast unmöglichen Aufgabe geworden ist.
Diese Skulptur, lieblos auf einem schiefen Podest in einer Ecke des Stadtzentrums platziert, spiegelt diese resignierte Verzweiflung wider. Die Anonymität und Gleichgültigkeit, die den Standort umgibt, verstärken den Eindruck, dass die Gesellschaft den Glauben an Aufstieg und Selbstverbesserung längst verloren hat. Der Heilige Sebastian als Märtyrer des verlorenen Optimismus, der von den Nachlässigkeiten der Moderne überrollt wird – eine bitter-sarkastische Hommage an die Unzulänglichkeiten unserer Zeit.
Ernst-Reinhart Böhligs „Sebastian II“ wirkt nicht nur als Kunstwerk, sondern auch als bitterer Kommentar zur sozialen Realität. Der steife Körper, scheinbar im Wind der Veränderung gefangen und doch unbeweglich, erinnert an das Scheitern der Träume und Ambitionen, die einst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft trugen. Nachtweys Kritik an den erschwerten Aufstiegschancen erhält durch diese Skulptur eine greifbare, visuelle Dimension. Die Figur, die auf ihrem Podest strauchelt, ruft uns die harsche Wahrheit ins Gedächtnis: Der Weg nach oben ist längst nicht mehr eine Frage des Mutes oder der Anstrengung, sondern oft nur noch ein verzweifelter Kampf gegen die Unvermeidlichkeit des Scheiterns.
Doch vielleicht ist das wahre Genie von Böhligs Werk seine Fähigkeit, trotz allem einen Funken Humor zu bewahren. Die schiefe, fast komische Pose des Sebastian könnte als zynisches Augenzwinkern an die Betrachter verstanden werden: Ein letzter, trotziger Lacher im Angesicht der unaufhaltsamen Niederlage. In einer Welt, die ihren Glauben an den Fortschritt verliert, bleibt uns vielleicht nur noch der Spott – ein düsterer, aber durchaus tröstlicher Gedanke.