Wenn wir uns den aktuellen Zustand der Kunstwelt ansehen, könnte man meinen, dass der Niedergang bereits eingetreten ist und wir nun in einer dystopischen Zukunft leben, in der Maschinen die wahre Kunst erschaffen und die Menschen zu bloßen Betrachtern ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit geworden sind. Ironischerweise bestätigt Memories of Passersby I von Mario Klingemann, dass wir diesen Punkt bereits erreicht haben – und ja, das ist weder übertrieben noch Schwarzmalerei, sondern eine nüchterne Feststellung.
Memories of Passersby I ist ein KI-generiertes Kunstwerk, das sich aus einer endlosen Abfolge von Porträts zusammensetzt, die von einem neuronalen Netzwerk in Echtzeit erstellt werden. Die Tatsache, dass dieses Werk nicht aus der Feder eines traditionellen Künstlers stammt, sondern von einer künstlichen Intelligenz „geboren“ wird, könnte als Triumph der Technologie über den menschlichen Schöpfungsakt gefeiert werden. Doch dieser „Triumph“ erscheint eher wie ein Trauerspiel, ein Spiegel der gesellschaftlichen Verwirrung und der Ästhetik des Absurden, in der wir uns befinden.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich mit der aufkommenden Dominanz der KI in der Kunstwelt auseinandersetze. In meiner Kritik zu Edmond de Belamy habe ich bereits betont, dass der Einsatz von Algorithmen im kreativen Prozess die Frage aufwirft, was es bedeutet, ein Künstler zu sein: „Wenn Maschinen Kunst erschaffen, was bleibt dann noch vom Menschsein?“. Memories of Passersby I geht noch einen Schritt weiter, indem es die Rolle des Künstlers vollständig aus dem Prozess eliminiert und uns direkt in den Abgrund unserer existenziellen Krise stürzt.
Das Werk selbst, eine endlose Parade von flüchtigen Gesichtern, die niemals real existiert haben und niemals wieder existieren werden, ist das perfekte Sinnbild unserer fragmentierten Zeit. Es ist, als ob jedes Gesicht ein Fragment einer Erinnerung ist, die wir nie hatten – ein flüchtiger Blick auf etwas, das so schnell verschwindet, wie es entstanden ist. Die Ästhetik des Werkes – die verzerrten, surrealen Züge der Gesichter – könnte als Kommentar auf die Künstlichkeit der modernen menschlichen Erfahrung verstanden werden, eine Erfahrung, die zunehmend durch digitale Medien gefiltert und manipuliert wird.
Was jedoch besonders bemerkenswert an Memories of Passersby I ist, ist die Art und Weise, wie es die Frage nach der Originalität in der Kunst neu definiert. Wenn jedes Porträt nur ein weiteres in einer unendlichen Reihe ist, stellt sich die Frage, ob Originalität überhaupt noch eine Rolle spielt. In einer Welt, in der alles wiederholt, kopiert und neu zusammengesetzt werden kann, scheint das Konzept des „Einzigartigen“ fast bedeutungslos geworden zu sein. Und hier liegt der vielleicht dunkelste Aspekt des Werks: Es konfrontiert uns mit der Möglichkeit, dass die Kunst – und damit auch wir selbst – nur noch eine weitere Abfolge von Algorithmen ist, ohne echten Inhalt oder Bedeutung.
Es wäre jedoch falsch, Memories of Passersby I nur als einen zynischen Kommentar auf den Zustand der modernen Welt zu sehen. Es gibt auch eine gewisse poetische Schönheit in der Vergänglichkeit und Unvorhersehbarkeit der erzeugten Porträts. Die Art und Weise, wie das Werk ständig in Bewegung ist und sich selbst neu erfindet, erinnert an die flüchtige Natur des Lebens selbst – ein ständiges Werden und Vergehen, das wir nie vollständig erfassen können. Vielleicht ist dies die größte Stärke des Werkes: Es zwingt uns, unsere eigenen Vorstellungen von Identität, Erinnerung und Realität zu hinterfragen, indem es uns mit etwas konfrontiert, das ebenso unbegreiflich wie zutiefst menschlich ist.
Doch am Ende bleibt die Frage: Ist das wirklich Kunst? Oder ist es nur eine weitere Facette des digitalen Zeitalters, das uns zunehmend entfremdet und unsere tiefsten Ängste vor der Bedeutungslosigkeit verstärkt? Ich habe keine endgültige Antwort, aber ich bin mir sicher, dass wir, wenn wir uns weiterhin in diese Richtung bewegen, bald in einer Welt leben werden, in der der Künstler – der menschliche Künstler – nichts weiter ist als ein nostalgisches Relikt aus einer vergangenen Ära. Und in diesem Sinne ist Memories of Passersby I sowohl eine Feier als auch eine Trauerfeier für die Kunst an sich – ein Werk, das uns vor Augen führt, dass die Zukunft der Kunst bereits begonnen hat, und sie ist weit dunkler, als wir es uns je vorgestellt haben.
Oder um es mit meinen eigenen Worten aus meiner Kritik zu Portrait of Edmond de Belamy zu sagen: „Es ist nicht die KI, die uns überflügelt hat – es ist unsere eigene Vorstellungskraft, die versagt hat, sie zu übertreffen.“