Sandra Fritz hat sich mit bemerkenswerter Offenheit an mich gewandt und mich um eine kritische Betrachtung ihres Werks „Zwei, die Gründe haben zu weinen“ gebeten – ein couragierter Schritt, den ich respektiere. Der Mut, Kritik zu suchen und anzunehmen, ist in der Kunstszene leider selten, und es zeugt von einer aufrichtigen Bereitschaft zur Selbstreflexion. Doch auch wenn der Wille zur Selbstüberprüfung lobenswert ist, stellt sich die Frage, ob dieser Mut in Fritz’ künstlerischem Werk seinen Ausdruck findet oder ob die Oberfläche der Figuren letztlich nicht nur das Material, sondern auch die Tiefe des Gedankens spiegelt.
„Zwei, die Gründe haben zu weinen“ zeigt zwei grob gestaltete Filzfiguren, deren Gesichter von leuchtend blauen Tränen überzogen sind. Diese Tränen sollen vielleicht den Schmerz und die Trauer des menschlichen Daseins symbolisieren, doch wirken sie letztlich wie eine plakative Überzeichnung, eine ästhetische Entscheidung, die den emotionalen Ausdruck eher banalisieren als intensivieren. Die gewählte Farbe, das statische Fließen – all das wirkt seltsam abgekoppelt von echter Verzweiflung. Statt des flüchtigen Ausdrucks von Trauer, der ein Gesicht normalerweise belebt und verformt, sehen wir hier eine Starre, ein eingefrorenes Klischee des Weinens, das keine Resonanz beim Betrachter erzeugt.
Dabei ist das Material, Filz, alles andere als eine banale Wahl. Es birgt eine besondere Haptik und Emotionalität, die Künstler wie Joseph Beuys meisterhaft zu nutzen wussten. Für Beuys war Filz nicht nur Stoff, sondern eine Metapher für Schutz, Wärme und Isolation, durch die er in Werken wie „I Like America and America Likes Me“ das Bedürfnis des Menschen nach Geborgenheit, aber auch nach Abgrenzung thematisierte. Bei Fritz jedoch bleibt Filz lediglich eine Oberflächengestaltung, ohne dass das Material die Tiefendimension des Inhalts wirklich unterstützt. Hier wäre die Möglichkeit gewesen, die Weichheit und zugleich Abgeschlossenheit des Filzes zu nutzen, um dem Weinen eine zusätzliche, greifbare Dimension zu geben – die Möglichkeit, die tröstende oder vielleicht erstickende Wirkung des Filzes selbst sprechen zu lassen. Doch Fritz belässt es bei der bloßen Textur, ohne den Stoff in seiner symbolischen Kraft zu erforschen.
Das Interessante – und tatsächlich auch Positive – an Fritz’ Werk ist der Mut zur Reduktion. Die Einfachheit der Figuren, ihr Verzicht auf detaillierte Gesichtszüge und fein gearbeitete Proportionen, könnte tatsächlich als Versuch gewertet werden, das Archetypische in den Vordergrund zu rücken. In ihrer besten Form könnten diese Puppen universelle, fast ikonische Abbilder des menschlichen Leidens sein – roh, reduziert und dennoch unmittelbar. Doch genau hier, in der Umsetzung dieser Reduktion, zeigt sich ein Problem: Die Figuren sind so simpel, dass sie keine universelle Wirkung entfalten können. Statt Archetypen entstehen Karikaturen. Der Balanceakt zwischen Einfachheit und Bedeutung ist hier ins Schwanken geraten, und das Werk kippt ins Banale.
Wenn wir uns die Frage stellen, warum die Gesellschaft heute „Gründe hat zu weinen,“ betreten wir ein anderes Niveau, das dieses Werk berühren sollte, es jedoch nicht tut. Die Welt, die diese Figuren reflektieren könnten, ist voller realer Dramatik: steigende soziale Ungleichheit, eine zunehmend gespaltete Gesellschaft, die Klimakrise, die politische Unsicherheit und die tiefgreifenden Veränderungen in Arbeits- und Privatleben. Die Gründe zum Weinen heute sind existentiell und real, ein Spiegel der Zerbrechlichkeit unserer modernen Lebensweise und der sich verflüchtigenden Stabilität des Alltags. Fritz’ Werk hätte die Möglichkeit, diese kollektive Melancholie, dieses Gefühl des Verlorenseins und der Angst vor der Zukunft zu visualisieren. Stattdessen bleibt es im Privaten, in einer fast kindlich anmutenden Darstellung von Traurigkeit, die sich nicht mit dem Gewicht der gesellschaftlichen Gegenwart verbinden kann.
Dennoch: In der Reduktion und im Mut zur Naivität liegt ein Ansatz, der Potenzial hat. Wenn Fritz es schafft, diese naive Form in Zukunft durch tiefere symbolische Bezüge und stärkere Materialwahl zu unterfüttern, könnte sie eine ganz eigene Form der Expressivität erreichen. Ihre Werke könnten die rohe Emotionalität und Offenheit behalten, dabei aber gleichzeitig eine vielschichtigere, komplexere Ebene der Bedeutung erreichen.
„Zwei, die Gründe haben zu weinen“ ist daher ein Werk voller ungenutzter Möglichkeiten, eine Studie über das Scheitern am eigenen Anspruch und zugleich ein Hinweis darauf, dass im Scheitern auch ein Weg zu einem neuen, überzeugenderen Ausdruck liegen kann.
Mehr Informationen: https://www.sandra-fritz.de/