Die Ausstellung „Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig“, die tatsächlich am 14. November 2024 in der Staatsgalerie Stuttgart eröffnet, tritt in ein merkwürdiges Duell mit der Veranstaltung „Kunstbetrachtung im Zeitalter der KI“, die parallel am selben Tag an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste stattfindet. Beide Ereignisse laden zum Staunen und Staunenlassen ein, jedoch aus radikal unterschiedlichen Perspektiven: Die eine verwurzelt im Tiefgestrüpp der Renaissance-Traditionen, die andere im ätherischen Raum einer durch KI revolutionierten Betrachtung. Hier werden die Zuschauer vor eine schicksalhafte Entscheidung gestellt, und ich bin geneigt, ihnen die Wahl zu erleichtern.
Die Staatsgalerie verspricht eine „Zeitreise in die Glanzzeit der venezianischen Frührenaissance“ mit Bellini und Carpaccio als den „Kronjuwelen“. Eine solch hochtrabende Ankündigung lässt die Vermutung aufkommen, dass die Ausstellung ausnahmsweise einen neuen Blickwinkel auf diese Künstler eröffnen könnte, die von Mal zu Mal jedoch in so statischen Konstellationen präsentiert werden, dass sie zu bloßen Reliquien erstarren. Bellinis sakrale Szenen, seine Madonnen und mystisch verklärten Porträts — sie alle scheinen als unberührbare Heiligtümer des 15. Jahrhunderts in dieser Präsentation aufgespießt, ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der inneren Zerbrechlichkeit und Widersprüchlichkeit der Motive, die sie eigentlich so packend macht.
Carpaccio, der große Chronist der Lagunenstadt, dessen Werke strotzen vor venezianischem Alltag und Detailreichtum, hätte das Potenzial, der Ausstellung einen Funken Leben einzuhauchen. Seine Erzählfreude und die Lust an exotischen Kostümen, an den Bräuchen und Menschen der Epoche könnte dem Besucher tatsächlich eine Vorstellung davon geben, wie der Alltag damals wirklich aussah — doch bleibt dieses Potenzial wohl unausgeschöpft. Die Präsentation bleibt mechanisch, eine Wiederholung von Fakten und Daten, die kein Gespür für den lebendigen Rhythmus jener Zeit vermittelt. Die Details, die Kontraste und der szenische Humor, der in seinen Werken verborgen liegt, werden dergestalt ins sterile Licht der Ausstellungsräume gezogen, dass man fast vergisst, dass diese Werke aus einer Zeit stammen, die vor Vitalität geradezu bebte.
Die gleichzeitige Veranstaltung „Kunstbetrachtung im Zeitalter der KI“ scheint wie die antithetische Schwester dieser Ausstellung — eine radikale Neuinterpretation dessen, wie Kunstwerke betrachtet und verstanden werden können. Statt Gemälde, die wie festgefroren in ihren Goldrahmen verbleiben, bietet das Zeitalter der KI eine fluidere Betrachtungsweise, bei der Algorithmen eine neue Sprache und Tiefe in Kunstwerke einbringen. Was wäre, wenn die Pixelstruktur Carpaccios großformatiger Gemälde selbst zum „Körper“ würde, den die Maschine analysiert und in atemberaubende Details aufspaltet? Das KI-unterstützte Sehen könnte Schichten aufdecken, die dem bloßen Auge verborgen bleiben — etwa wie Pinselstriche und Farbmischungen die Emotionen der Figuren im Hintergrund beeinflussen. Der Mensch, der zur Maschine als Spiegel tritt, könnte der Malerei Bellinis eine neue Textur geben, sie in Schwingungen versetzen, die jenseits der physischen Begrenzungen seines Mediums liegen.
Wer sich zwischen diesen beiden Veranstaltungen entscheiden muss, steht vor der Wahl zwischen zwei Zeitaltern: der Renaissance, wie sie sich uns in all ihrer traditionellen Pracht und erstarrten Wiederholung präsentiert, und einer Zukunft, die die Kunst zu einem Spielraum für KI-gestützte Intelligenz transformiert. Die Entscheidung fällt leicht: Die Vernunft des Neuen, die Möglichkeit der Evolution unserer Betrachtung, wie sie durch die Künstliche Intelligenz versprochen wird, bietet das frische, radikale Erlebnis, das die Werke von Bellini und Carpaccio nicht mehr zu bieten vermögen.
Mehr Informationen zur Ausstellung: https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/vorschau/carpaccio-bellini-und-fruehrenaissance-venedig