Die Deichtorhallen Hamburg haben sich mit „Blow-Up. Eine Retrospektive“ auf das monumentale Werk Franz Gertschs eingelassen – eine Schau, die mehr als 60 Jahre Schaffen eines Künstlers zeigt, der als Pionier des Fotorealismus und Meister des modernen Holzschnitts gefeiert wird. Doch in der Gegenwart, die von Krisen, Unsicherheiten und einem tiefen Wandel geprägt ist, wirft diese Ausstellung eine vielschichtige Frage auf: Hat Kunst wie die Gertschs heute noch Relevanz, oder ist sie nur eine makellose, aber letztlich leere Hülle?
Gertschs sterile Perfektion und die Illusion von Wirklichkeit
Die Werke Franz Gertschs – mit ihrer beispiellosen technischen Präzision – stehen in einer merkwürdigen Opposition zur chaotischen Realität unserer Welt. Während Gertschs überdimensionale Gemälde und Holzschnitte den Betrachter durch ihre Detailverliebtheit in den Bann ziehen, entziehen sie sich gleichzeitig jeder tiefergehenden Interpretation. Die hyperrealistischen Darstellungen der Jugend- und Musikszene der 1970er Jahre, die in der Ausstellung einen prominenten Platz einnehmen, wirken wie konservierte Momente einer vergangenen Ära, die mit der heutigen fragmentierten Gegenwart nichts mehr zu tun haben.
Der Fotorealismus, der Gertsch berühmt machte, ist eine Feier der Oberfläche. Doch in einer Welt, die von Fake News, digitalen Täuschungen und der Erosion von Wahrheit durchsetzt ist, erscheint diese obsessive Genauigkeit fast zynisch. Sie erinnert an die glänzenden Fassaden unserer modernen Gesellschaft, hinter denen soziale, ökologische und politische Abgründe verborgen liegen.
Die Unzulänglichkeit des Ewiggleichen in einer sich wandelnden Welt
Die Ausstellung greift Gertschs berühmte Themen – Porträts von Freunden und Künstlern wie Patti Smith, epische Landschaften und intime Familienszenen – in einer Weise auf, die dem Künstler Tribut zollen soll. Doch diese Werke sind von einer seltsamen Statik durchzogen, einer fehlenden Bereitschaft, die Realität zu hinterfragen oder gar zu transformieren. In einer Welt, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit verändert, wirken Gertschs Bilder wie Relikte einer Ästhetik, die keinen Raum für Zweifel oder Brüche lässt.
Man denke an die Klimakrise, die geopolitischen Konflikte oder die zunehmende soziale Ungleichheit. In einer solchen Zeit braucht Kunst keine sterile Perfektion, sondern mutige Konfrontation. Künstler wie Olafur Eliasson oder Ai Weiwei beweisen, dass zeitgenössische Kunst nicht nur reflektieren, sondern auch zum Handeln anregen kann. Gertsch hingegen bleibt im sicheren Terrain eines Realismus, der die Oberfläche feiert, aber die Abgründe darunter ignoriert.
Die Ästhetik der Kontrolle und die Illusion von Meisterschaft
Ein besonders auffälliges Merkmal von Gertschs Werk ist sein Kontrollwille. Seine Holzschnitte, die in mühevoller Handarbeit entstehen, sind Ausdruck eines handwerklichen Perfektionismus, der fast obsessiv wirkt. Doch in einer Welt, die immer mehr außer Kontrolle gerät, wirkt diese Ästhetik wie eine Flucht in eine irreale Ordnung. Gertschs Naturdarstellungen, die oft als meditative Meisterwerke gepriesen werden, sind in Wirklichkeit ein Versuch, die Wildheit und Unberechenbarkeit der Natur zu domestizieren. Dies steht in scharfem Kontrast zur aktuellen Realität, in der Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Waldbrände und Stürme die zerbrechliche Beziehung zwischen Mensch und Umwelt offenbaren.

Acrylic on unprimed cotton, 198 x 298 cm
Private Collection, Switzerland
Copyright: © Franz Gertsch AG, Foto: Dominique Uldry, Bern (2020)
Die Welt im Spiegel der Kunst: Sterilität versus Chaos
Die Gegenüberstellung von Gertschs makellosen Darstellungen und der chaotischen Weltlage macht deutlich, wie entfremdet manche Kunstwerke von der heutigen Realität wirken. Wo Gertsch versucht, durch seine minutiöse Technik eine Form von Ordnung und Kontrolle zu bewahren, verlangt die Welt nach Künstlern, die den Mut haben, diese Illusion zu zerstören. Seine Werke sind eine Hommage an eine Zeit, in der man noch an die Beherrschbarkeit der Realität glaubte – eine Zeit, die längst vorbei ist.
Vergleichen wir dies mit der aktuellen Lage: Die jüngsten politischen und sozialen Entwicklungen zeigen eine Welt, die von Polarisierung, Unsicherheit und der Herausforderung globaler Krisen geprägt ist. Die Rolle der Kunst in dieser Zeit sollte nicht sein, nostalgische Ideale zu konservieren, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen zu ermöglichen. Franz Gertschs Werk mag in seiner Zeit revolutionär gewesen sein, doch im Kontext unserer fragmentierten Gegenwart wirkt es seltsam deplatziert.
Fazit: Eine Ausstellung als Mahnmal einer vergangenen Ära
„Blow-Up. Eine Retrospektive“ ist ein beeindruckendes Zeugnis von Franz Gertschs handwerklichem Können und seiner Fähigkeit, die Realität in makellosen Bildern einzufangen. Doch diese Perfektion erweist sich als Schwäche in einer Welt, die nach Kunst verlangt, die provoziert, konfrontiert und transformiert. Die Ausstellung wird somit zu einem Mahnmal einer vergangenen Ära, in der die Illusion von Kontrolle und Perfektion noch intakt war. Heute jedoch erinnert sie uns daran, dass die Oberfläche nicht ausreicht – weder in der Kunst noch im Leben. Was wir brauchen, sind keine weiteren Spiegel der Realität, sondern Werke, die den Mut haben, sie zu zerbrechen.
Mehr Informationen zur Ausstellung: https://www.deichtorhallen.de/ausstellung/franz-gertsch